Loewenmut

Das Fanzine für alle Löwenfans und den Rest der Welt

Aus Heft 9: Das Jahr der großen Feier

Kapitel 1

Das Turnier war in vollem Gange. Die Gaukler, die Schacherer, Barden, Taschenspieler, Narren und das sonstige Gesindel hatten den Platz verlassen. Nun stürmten, schwer gepanzert auf ihren riesigen Schlachtrossen thronend, die Lanzen hoch erhoben, die Ritter aufeinander zu.

Schon einmal hatten beide Anlauf genommen, der Rote und der Blaue Ritter, schon einmal die Lanzen gekreuzt. Aber nicht einfach ist es, in der wohl schützenden, doch auch sehr einengenden Rüstung auf galoppierendem Ross die lange, gewichtige Lanze ruhig und zielgenau zu halten. So hatten beide Waffen harmlos die Luft zerteilt und der Schwung hatte beide Ritter weit aneinander vorbeigetrieben.

Jetzt hatten sie sich wieder ins Visier genommen, und ihre Lanzenspitzen zielten auf den Brustharnisch des Gegners. Donnernd dröhnten die Hufe, als die Rösser auf Kollisionskurs gingen. Die Luft erbebte von der Wucht der aufeinander zu eilenden lebenden Geschosse, das Publikum war verstummt und keiner vernahm mehr die immer noch im Hintergrund spielende, zarte Musik.

Die Lanze traf scheppernd ihr Ziel.

In seiner Hand spürte der Blaue Ritter den fürchterlichen Aufprall seiner Lanze, durch den schmalen Schlitz in seinem Helm sah er sie sich in den Harnisch seines roten Gegners bohren, dessen eigene Waffe hilflos gen Himmel zuckte. Das Pferd des Roten Ritters war in vollem Lauf, sein Reiter wurde nach hinten geschleudert und flog in hohem Bogen über die breite Kruppe des gewaltigen Tieres.

Dann fiel der Rote Ritter.

Sein Sturz war tief. Er schien kein Ende nehmen zu wollen.

Dem Roten Ritter war, als hätte sich der Boden geöffnet, während er die Hufe seines Rosses in der Ferne verschwinden sah. Der dumpfe Schlag, mit dem er auf die Erde zu prallen erwartete, kam nicht. Stattdessen schien ein grünlicher Abgrund sich aufzutun, eine bronzene Wand, an der der Geschlagene vorbeifiel. Doch sofort öffnete sich die Wand zu einer dunklen Grotte, in der Schäffler tanzten, während in ihrer Mitte ein getupfter Kasper seine Pritsche schwang.

Nachdem er an der Grotte vorbeigefallen war, krachte der Rote Ritter gegen einen seltsamen, verzierten Giebel, der jedoch immer noch keine Halt bot.

Und immer noch fiel der Rote Ritter. Er fiel und fiel.

Vorbei an der steilen Wand, die nun felsengraue Farbe hatte, vorbei an weiteren finsteren Grotten, vorbei an großen, aus Stein gehauenen Figuren, an steinernen Verzierungen und Ornamenten.

Dann schlug er auf.

Und obwohl hoch über seinem zerschmetterten Körper der Himmel blau war, begannen Blitze zu zucken. Blitze, die seine verstreuten Gliedmaßen in gespenstisch grelles Licht tauchten. Blitze, die seinen geborstenen Leib erhellten, der da auf dem Marienplatz lag, während unaufhörlich die Verschlüsse japanischer Spiegelreflexkameras klickten.

Kapitel 2

»Wird jetzt endlich der damische Ritter repariert?!«

Noch heute klingt dieser Satz in den Ohren von Oberbürgermeister Bernd Haferling nach. Wie oft hatte er ihn damals selber ausgerufen? Täglich jedenfalls; meist mehrmals. Oft wütend laut, manchmal leise seufzend. Das hatte aber auch gedauert, bis dieser elende Ritter wieder im Glockenspiel seine Runden drehte! Die Reparatur scheint furchtbar kompliziert gewesen zu sein. Allein schon die Fachleute, die so eine Reparatur durchführen können, in Schwung zu bringen und ihnen die Dringlichkeit des Falles klarzumachen (das Münchner Glockenspiel ohne den Ritter; das geht doch nicht!), dauerte ewig.

Und so muss Haferling auch heute, Jahre später, immer noch jeden Mittag, wenn das Glockenspiel im Rathaus ertönt, an die Geschichte mit dem gefallenen Ritter denken. Dem roten Ritter, der sich mit den anderen Figuren im oberen Stockwerk des Glockenspiels dreht und beim zweiten »Ansturm« des blauen Ritters von dessen Lanze getroffen nach hinten kippt und so gekippt auf dem Rücken des Pferdes seine Runde vollendet. Dem roten Ritter, der eines Tages in jenem schicksalhaften Jahr nicht nur kippte, sondern, aufgrund der vom Verschleiß gelockerten Mechanik, seinen Halt verlor und zum Entsetzen der vorwiegend asiatischen Zuschauer vom Pferd und vom Rathausturm fiel.

Und Haferling denkt gern daran zurück. War doch der Sturz des roten Ritters so enorm symbolhaft für jenes Jahr!

Jenes Jahr, in dem sich so vieles änderte. Jenes Jahr, in dem der damalige Oberbürgermeister Christian Ude lange vor dem Ablauf seiner Amtszeit, von der Stadionaffäre gebeutelt, seinen Hut nahm und zurücktrat. Jenes Jahr, in dem er, Bernd Haferling, der erste grüne Oberbürgermeister von München wurde.

»Herr Haferling«, ertönt die laute und immer ein wenig schrille Stimme von Veronika Hertl, seiner Sekretärin, »Ihr Jackett für den Empfang ist grad abgegeben worden«.

»Ich muss jetzt aufhören, in Erinnerungen zu schwelgen«, denkt sich Haferling, während er nach seiner blauen Krawatte greift, »so viel ist noch zu tun und vorzubereiten«.

Denn es ist das Jahr der großen Feier.

Der TSV München von 1860, der Verein, dessen Aufsichtsrat Haferling angehört, ist zum ersten Mal seit Dekaden wieder deutscher Fußballmeister geworden, nachdem im letzten Jahr endlich der langersehnte Aufstieg in die erste Bundesliga gelungen ist. Und das in der vereinseigenen Radenkovic-Arena, dem neuer- bauten Sechzger-Stadion in Obergiesing. Die andere Feier, damals vor einigen Jahren, zum hundertfünfzigsten Geburtstag des Vereins, war klein und bescheiden gewesen, die Umstände damals drückend und deprimierend.

Doch als dann kurze Zeit später ein Grüppchen unbeugsamer, engagierter und kundiger Leute herausfand, dass die Kaufverträge, die Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts von den einen Nazis in der Vereinsführung mit den anderen Nazis im Rathaus geschlossen worden waren, und mit denen das TSV-eigene Heinrich- Zisch-Stadion, wie das an der Grünwalder Straße gelegene Stadion hieß, an die Stadt München verschachert worden war, dass ebendiese Kaufverträge rechtswidrig und somit ungültig waren, war damit ein Fundament gelegt worden für eine großartige Zukunft.

Das anschließend folgende, beispiellose Zerren um das Stadion, das eigentlich nie in den Besitz der Stadt übergegangen war, die es seit einem dreiviertel Jahrhundert für sich beanspruchte, hatte Christian Ude politisch den Kopf gekostet und ihn, Bernd Haferling, zu seinem Nachfolger gemacht. Und so war dann in seiner Amtszeit mit den Entschädigungen, die die Stadt München letztlich an den TSV entrichten musste, jene Fußball-Arena gebaut worden, die dem Verein zu seinem hundertfünfzigsten Geburtstag versagt geblieben war.

Aber jetzt wird es Zeit für Haferling, sein Jackett anzuziehen und sich auf den Weg zu machen, denn die Meisterschale ist zurückgekehrt nach Giesing.

Es ist das Jahr der großen Feier.

         Andy

 


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