Loewenmut

Das Fanzine für alle Löwenfans und den Rest der Welt

Aus Heft 5: Das erste Mal

»Nur Leistung zählt« – was für ein Scheißspruch

Zur Eröffnung des Stadions, das nicht mehr Stadion sondern Arena heißt, hat die Namensgebende Versicherung auf Plakaten mit der Arena und dem Spruch geworben: Für alle, die Leistung sehen wollen, oder so ähnlich. Ich habe diesen Spruch gelesen und mich gefragt, ob Leistung wirklich das ist, weshalb ich zum Fußball gehe. Hat mich mein Streben nach Leistung oder zumindest die Bewunderung dafür Fan werden lassen?

Die frühesten Erinnerungen, die ich habe, gehen ins Alter von drei oder vier Jahren zurück. Eine der deutlichsten dieser frühkindlichen Erinnerungen liegt im Sommer des Jahres 1974, ich war gerade vier Jahre alt. Im Wohnzimmer meiner Großeltern sind drei Generationen männlicher Familienmitglieder (mein Vater, Großvater, mehrere Onkel und Cousins) ver sammelt und sehen das Endspiel der WM. Neben den Bildern vom Spiel hat sich die herrschende Atmosphäre tief in mein Gedächtnis gebrannt. Die Luft vor Rauch zum schneiden, Bierflaschen und Weinbrandschwenker auf dem Tisch, das Raunen, das Aufschreien, das Fluchen und natürlich das Jubeln; Leidenschaft. Ich bin sicher, dass später selbst bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen nie mehr eine solche Verbundenheit zwischen all diesen Männern und Buben geherrscht hat, wie an diesem Tag. Nach diesem ersten Mal war es wohl unvermeidlich, dass ich Fußballfan werden musste.

Ein paar Jahre später hatte ich ein weiteres erstes Mal, denn ich begann selbst zu spielen. Leidenschaft pur, jede freie Minute hatte ich einen Ball am Fuß. Meine Samstage sahen dann so aus, dass ich Mittags zu meinem eigenen Spiel ging und danach auf der Terrasse meiner Eltern saß, Orangensaft trank, meine Fußballschuhe putzte und »heute im Stadion« hörte. Und natürlich wollte ich auch an diese Orte, von denen ich dort im Radio hörte. Ich wollte ProfiFußball sehen, von welchen Vereinen war egal.

Eventpublikum gab es also schon damals, und so kam das nächste erste Mal: ein Bundesligaspiel im Stadion. Ich habe es im Olympiastadion bei den Roten erlebt, kann mich aber beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was für ein Spiel es war. An das nächste erste Mal erinnere ich dafür um so besser. Es war der 29.11.1980. Mein Vater wollte mir wieder einmal meinen Wunsch nach Bundesligafußball erfüllen, und ich fand mich auf der Haupttribüne nahe bei der Nordkurve im Olympiastadion wieder. Es spielte der TSV München von 1860 gegen den VfB Stuttgart. Mir war das zunächst egal, Hauptsache Fußball. Das Spiel war ein grauenhafter Grottenkick, 0:0. Aber für mich wurde das eigentliche Spiel an diesem Tag zur Nebensache. Ich habe während dieses Spiels mehr in die Nordkurve als auf das Spielfeld geschaut. Dort war es laut und wild. Mein Bild von Fußballpublikum war bis dahin geprägt von nett aussehenden Menschen mit bunten Fahnen und lustigen Mützen. Hier aber waren auf einmal wild aussehende Männer in schwarzen Lederjacken, über denen Jeanswesten mit diesem riesigen Löwen drauf waren. Nett sahen die nicht aus, viel mehr hart und dreckig. Das passte zu der Musik, die mich zu der Zeit anfing zu faszinieren, und die die älteren Jungs in der Schule hörten, für die ich Tafel putzte, damit sie mir AC/DC und Motörhead auf Kassette zu überspielen. Diese Männer mit den großen Löwen brüllten Sachen, die ich zum Teil noch nie gehört und auch nicht verstanden habe. Eins habe ich aber verstanden, das was sie am lautesten brüllten: 60,60,60. Darin lag eine Aggressivität, die mich sofort faszinierte, aber vor allem lag darin eine Leidenschaft, die sich mit nichts vergleichen lässt, was ich bislang erlebt hatte. Die Grundlage für eine große Liebe war gelegt.

Weitere erste Male folgte bald. Das erste Mal auf Giesings Höhen im schönsten Stadion der Welt, leider auch das erste Mal absteigen und bald noch schlimmeres. Das erste Mal auswärts, das erste Mal aufsteigen, und dann 19 Jahre nach meinem ersten Löwenspiel, wieder Ende November, wieder im Olympiastadion, das erste Mal Derby-Sieg. Dann noch ein sehr besonderes erstes Mal: der Klassiker »an Vaters Hand«, nur dass ich die Rolle des Vaters habe. 27.05.2000, letzter Spieltag der Regionalliga Süd, 60 (A) – Aalen (0-1) und an Vaters Hand, meiner Hand, meine älteste Tochter, damals noch keine drei Jahre alt. Wir sitzen auf den Stufen der Westkurve im Block F, da wo ich Jahre zuvor immer gestanden bin, bevor …, aber lassen wir das.

Für alle, die Leistung sehen wollen. Was für ein Scheißspruch. Ich gehe nicht zum Fußball, um Leistung zu sehen. Was ich sehen, erleben, spüren will, ist Leidenschaft. Sollte jemand diesen Unterschied nicht verstehen, kann ich diesen Mensch nur bedauern, weil er nichts davon versteht, was Fußball, was Fan sein, was 60 für mich wirklich bedeutet. Und natürlich kommt Leidenschaft auch von leiden. Nirgendwo bewahrheitet sich das so klar wie immer wieder bei den Löwen. Aber genau das ist es doch, was 60 ausmacht.

25 Jahre mit den Löwen, mehr als 30 Jahre Fußball und dann dieses Jahr wieder ein erstes Mal, in dem Stadion, das nicht mehr Stadion sondern Arena heißt. Die Löwen spielen gegen West Ham. Es ist das erste Mal, das ich ein erstes Mal mit den Löwen oder überhaupt in Zusammenhang mit Fußball habe, das nicht von Leidenschaft, sondern von Skepsis und sogar ein bisschen Depression geprägt ist, aber ich habe es überlebt und bin wieder hingegangen.

Ich weiß nicht, wie viele Löwenspiele ich im Stadion gesehen habe, aber ich bin bei jedem dieser Spiele stolz darauf, dabei gewesen zu sein, egal in welcher Liga, egal ob Derbysieg oder so erheiternde Spätherbstabende, an denen man im DFB-Pokal in der nebligen Schüssel vor unter 5000 Zuschauern mit einer richtigen Packung ausscheidet. Jemanden, der Leistung sehen will, hätten die meisten dieser Spiele in den Selbstmord getrieben. Wildmoser hat auf die Leistungskarte gesetzt, und die Schäden, die dies im Verein angerichtet hat, wirken bis heute. Ob der Verein jetzt in dem Stadion, das nicht mehr Stadion sondern Arena heißt, daraus etwas gelernt hat?

Alex


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